Der goldene Schnitt

Ein Fest rund um die Vorhaut

© Edi Szekely

Mitwirkende

Im Theater Dortmund

Schauspiel: Jasmina Musić, Murat Seven, Levin Engin / Nima Majedzadeh

Bühne und Kostüme: Ayşe Gülsüm Özel

Dramaturgie: Michael Eickhoff

Video: Maximilian Krug

Choreografie: Barbara Melo Freire

Regieassistenz: Friederike Helmes

„Frag nicht: Was hat man aus mir gemacht? Frage: Was habe ich gemacht aus dem, was man aus mir gemacht hat.“

Bertholt Brecht

 

Ibrahim und Judith bereiten die große Feier zur Beschneidung ihres Sohnes vor: Verwandte, Freunde und Kollegen sind geladen und finden sich zum Tag der Tag zusammen, wenn aus dem Jungen ein Mann wird. Auf dem Fest im Studio des Schauspiels ist alles grell und bunt, die Musik läuft – viel zu laut. Doch je mehr das Fest dem Höhepunkt entgegen treibt, desto größer werden die Bedenken – Beschneiden oder nicht?

Ein Urteil des Kölner Landgerichts löste im Frühsommer 2012 eine General-Debatte um Beschneidungen aus – Körperverletzung oder zu schützende religiöse Tradition? Die Debatte, in der sich Betroffene, Juristen, Rechtsmediziner, Sexualwissenschaftler, Ethiker, Politiker, Religionswissenschaftler u. a. äußerten, birgt nach wie vor gehörigen sozialkulturellen Sprengstoff.

Seit Dezember 2012 gibt ein Bundes-Gesetz Sicherheit, um die Beschneidung bei Säuglingen und Jungen aus religiösen oder medizinischen Gründen vorzunehmen – seitdem stehen sich aber zwei Positionen unvereinbar gegenüber: das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einerseits und das Grundrecht auf kulturelle Selbstbestimmung von Menschen muslimischen und jüdischen Glaubens andererseits.

Der goldene Schnitt führt beispielhaft mitten hinein in einen Konflikt zwischen verschiedenen Kulturen, Traditionen und Religionen.

Aus dem Stück:

Judith: Ich möchte einen Platz, an dem ich endlich zu Hause sein kann – ich bin Deutsche. Ich habe meine ganze Familie eingeladen, sie sitzen hier: aus Sarajevo, Tel Aviv, aus dem USA. Wir sind nicht erst seit den 1990ern überall hin versprengt. Wenn ich jetzt die Beschneidung von unserem Smile will und diese verdammte Fest feiern möchte, dann ist das, weil ich mir wünsche, dass er dazu gehört, dass er mit dieser Feier aufgenommen wird in etwas, was größer ist als du und ich (…) Mit der Beschneidung erinnern wir uns an unsere Herkunft, mit der Feier bezeugen wir sie – und geben Smile eine Heimat (…) Ich brauche die Beschneidung.

Ibrahim: Ich war ein kleiner Junge, und der Beschneider mit Parkinson führte dieses religiöse Ritual durch. Mehrere Männer haben mich festgehalten. Der Beschneider hat dann mit einem Rasiermesser meine Vorhaut abgeschnitten. Zack. Hat 30 Sekunden gedauert. Ohne Betäubung. Es ist ein Initiationsritual. Man soll Schmerzen erleiden, um zur Gemeinschaft der Großen zu gehören. Es ist eine Art, dem Kind zu verstehen zu geben: Wir Erwachsene beherrschen dein Intimstes, dein Geschlecht. Es ist eine Warnung. Schau, was passieren kann, wenn du rebellierst. Es ist eine symbolische Kastration. Die Beschneidung ist eine Tradition der Väter. Es geht um die Zugehörigkeit. Gleich sein. Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich gesagt: „Nein, ich will nicht beschnitten werden!“

„Dieser Beginn ist heiter und wunderbar locker (…) Das Stück nimmt da scharfe Kurven, die irritieren (…) Aber die Tendenz gegen die  Beschneidung, für den übergeordneten Wert des Kindeswohls, ist dabei deutlich.“ [Theater Heute Juni 2016]

 „Was, wenn selbst Jahrtausende alte Traditionen westlichen Wertediktaten zum Opfer fallen? Familienfest und Ehe drohen zu scheitern, bis der Junge dann doch auf dem OP-Tisch liegt und sich, clever und entschlossen, selbstständig davonmacht. Ein kurzweiliger, gut gespielter Abend“ [Deutschlandfunk, April 2016]

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